Was ist (Selbst-)Bewusstsein?
Edgar L. Gärtner
Schon
seit Sigmund Freuds „Entdeckung“ des Unbewussten, spätestens aber seit den
neurophysiologischen Experimenten von Benjamin Libet (1916-2007) in Kalifornien
gilt der Mensch nicht mehr als Herr im Hause des eigenen Ich. Nach Libet sei es
„eine unumstößliche und experimentell
bewiesene Tatsache, dass eine
Handlung immer schon ausgeführt ist, wenn sich das Gehirn ihrer bewusst wird“, erklärt
einer seiner Nachfolger, der bekannte amerikanische Hirnforscher Michael
Gazzaniga, in seinem neuesten Buch „Who’s
in Charge? Free Will and the Science of the Brain“. Damit scheint sich
Gazzaniga auf den ersten Blick der durchaus gängigen deterministischen
Fehlinterpretation der Experimente Libets anzunähern. Die deutsche Übersetzung
des Titels seines Buches („Die
Ich-Illusion“) leistet diesem Missverständnis noch (bewusst?) Vorschub. In
Wirklichkeit vertritt Gazzaniga in seinen Ausführungen über die strafrechtliche
Verantwortung eher die gegenteilige Position, indem er die individuelle
Verantwortung unterstreicht.
Streng
genommen können Experimente nach der Theorie des Wissenschaftsphilosophen Karl
R. Popper übrigens nichts beweisen, sondern nur Vermutungen entkräften
beziehungsweise Annahmen falsifizieren. Das heißt wir wissen nach einem
Experiment mit einem eindeutigen Ausgang, wie ein Vorgang sicher nicht abläuft.
Aber wir wissen noch wenig über die tatsächlichen Zusammenhänge. Deshalb hat
Libet selbst die Ergebnisse seiner Experimente immer sehr vorsichtig
interpretiert und sich in keiner Weise jenen militanten Materialisten
angenähert, die darin die ultimative Widerlegung der traditionellen
jüdisch-christlichen Auffassung von Willensfreiheit sehen wollten.
Was zeigen Benjamin Libets Experimente
genau?
Hier
noch einmal in aller Kürze, was Libet herausgefunden hat: Seine
Versuchspersonen sollten zu einem frei wählbaren Zeitpunkt ein Handgelenk
bewegen. Den Zeitpunkt ihres Entschlusses sollten sie sich mithilfe eines sich
bewegenden Punktes auf dem Bildschirm eines Oszillographen merken. Nach den
Angaben der Versuchsteilnehmer erfolgte dieser Entschluss etwa 200
Millisekunden vor dem Beginn der Handlung. Libet stellte jedoch mithilfe von
Elektroden an der Schädeldecke fest, dass sich in den für die Handbewegung
zuständigen neuronalen Schaltkreisen schon 350 Millisekunden früher, das heißt insgesamt
550 Millisekunden vor dem Handlungsbeginn ein so genanntes Bereitschaftspotential
aufgebaut hatte. Die Entscheidung, ein Handgelenk zu bewegen, erfolgte also in
Wirklichkeit unbewusst, obwohl die Versuchspersonen den Eindruck hatten, sich
völlig frei und bewusst entschieden zu haben. Libet konnte zeigen, dass der
falsche Eindruck durch eine automatische Rückdatierung der Entscheidung
zustande kommt. Er konnte ferner demonstrieren, dass die Versuchspersonen
unbewusst eingeleitete Handlungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt durchaus noch
durch ein bewusstes Veto stoppen können. In dieser Veto-Möglichkeit besteht
seiner Ansicht nach ein wichtiger Aspekt der Willensfreiheit. Die Menschen
können also spontanen Handlungsimpulsen im Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen
und/oder mit sozialen Tabus widerstehen. Libet weist in diesem Zusammenhang
darauf hin, dass die Zehn Gebote der Bibel überwiegend Veto-Befehle beinhalten.
Michael
Gazzaniga lokalisiert den Prozess der Rückdatierung des bewussten
Handlungsentschlusses in der linken Hirnhälfte, die für nachträgliche
Interpretationsleistungen aller Art (einschließlich der „Ich-Illusion“) zuständig
ist. Er ist aber der Meinung, der Rückdatierung werde eine zu große Bedeutung
zugeschrieben. „Das Bewusstsein ist seine
eigene Abstraktion auf seiner eigenen Zeitskala, und diese Zeitskala stimmt mit
ihm überein, “ schreibt er. Er nähert sich damit der Auffassung der meisten Quantenphysiker, die sich längst von der Vorstellung einer Absolutheit der Zeit verabschiedet haben. Die
Veto-Funktion verortet Gazzaniga, wie vor ihm die Neurobiologen Marcel Brass
und Patrick Haggard, in einem spezifischen Areal im dorsalen frontomedialen
Cortex (dFMC). Aus früheren Untersuchungen an Hirnverletzten war bereits
bekannt, dass eine Schädigung des orbitofrontalen Cortex, des erst in der
Pubertät ausreifenden Teils des Stirnhirns, der direkt über den Augen liegt, zum
Verlust der Impulskontrolle und der Fähigkeit zum vorausschauenden, moralkonformen
Handeln führt. Der Bremer Verhaltensphysiologe Gerhard Roth weist allerdings
darauf hin, dass auch dem Veto ein messbares Bereitschaftspotential vorausgeht.
Das Veto könne also nicht rein geistiger Natur sein. (Dazu später) Dagegen
verweist Gazzaniga auf psychologische Experimente von Kathleen Vohs und
Jonathan Schooler, die zeigen, dass zumindest der Glaube an den freien Willen
Denken und Handeln positiv beeinflussen kann: Von ihrem freien Willen
überzeugte Testpersonen mogelten bei Testaufgaben signifikant weniger oft als
solche, die dem Determinismus zuneigten. In diesem Sinne könne man durchaus
sagen, ein Geisteszustand könne einen anderen beeinflussen, meint Gazzaniga.
Daraus lässt sich schließen: Der freie Wille ist im wahrsten Sinne des Wortes
eine Glaubenssache. So weit wir von unserem freien Willen überzeugt sind,
entscheiden wir selbstbestimmt.
In
seinem im Jahre 2005 erschienenen Buch „Mind
Time“ legte Libet seine Time-on-Theorie
dar, wonach alle bewussten Gedanken, Pläne und Gefühle unbewusst beginnen.
Schnelle Reaktionen im Sport (zum Beispiel beim Zurückschlagen eines 160
Stundenkilometer schnellen Tennisballs) können nur unbewusst erfolgen. Sie
werden erst bewusst, wenn die Aktion bereits abgeschlossen ist. Er ging dabei
davon aus, dass das subjektive Bewusstsein wesentlich nichtphysischer Natur und
deshalb nicht auf neuronale Funktionen reduzierbar ist. Der materialistische
Determinismus beruhe ebenso sehr auf nicht falsifizierbaren Glaubens-Annahmen
wie sein Gegenpart, der idealistische Dualismus von Leib und Seele, betonte
Libet, der sich früher als Schüler von Sir John C. Eccles zum Dualismus
bekannte, bis er mit seinen bahnbrechenden Experimenten anfing. Danach neigte
er zwar eher dem materialistischen Monismus zu, blieb jedoch weit davon entfernt,
den Dualismus von René Descartes lächerlich zu machen. Dafür erschienen ihm dessen
theoretischen Überlegungen als viel zu tief.
Die
Bewusstseinsinhalte sind nach Libets Überzeugung unabhängig von neuronalen
Funktionen. Er kannte kein Experiment, das Anhaltspunkte für das Gegenteil
lieferte. In der Tat: Epilepsie-Patienten, denen aus therapeutischen Gründen
die Verbindung zwischen den beiden Großhirnhälften (Corpus callosum) durchtrennt wurde („Split brain“), fühlen sich
noch immer als einheitliches Selbst. Weder sehen sie doppelt noch fühlen sie
widerstrebende Handlungsantriebe. Bewusstes Erleben ist, wie Libet selbst
zeigen konnte, auch unabhängig vom Prozess der Gedächtnisbildung. Insofern ist
der deutsche Untertitel des Libet-Buches („Wie das Gehirn Bewusstsein
produziert“) irreführend. Libet selbst setzte „produziert“, vorsichtig wie er
war, in Anführungszeichen. Er ging lediglich davon aus, dass Bewusstsein, im
Einklang mit seinen Experimenten, „das
emergente Resultat geeigneter neuronaler Aktivitäten ist, wenn diese eine
Mindestdauer von 0,5 sec haben.“
An
diese Hypothese hält sich auch Gazzaniga, wenn er schreibt: „Ich glaube, dass bewusstes Denken eine
emergente Eigenschaft ist.“ Was das
genau heißt, wird aber nicht klar. Ist Emergenz nicht lediglich ein anderes
Wort für Wunder? Ich habe jedenfalls den Verdacht, dass Neurowissenschaftler
immer dann die Emergenz ins Feld führen, wenn sie theoretisch nicht mehr weiter
wissen. Gazzaniga ist übrigens der Neurowissenschaftler, der wohl die meisten Experimente
mit „Split-Brain“-Patienten durchgeführt hat. Er konnte dadurch zeigen, dass es
unmöglich ist, das Ich-Bewusstsein in einer der beiden Großhirnhälften oder
sonst wo zu lokalisieren. Dennoch gebe es ein Ich-Gefühl, stellt er fest. Er
legt es darüber hinaus nahe, neben dem entwicklungsgeschichtlich sehr jungen
Broca-Areal oder Sprachzentrum im unteren linken Stirnhirnlappen auch den
bereits 1925 entdeckten, aber lange Zeit kaum beachteten Von-Economo-Neuronen
(VEN) eine Schlüsselrolle in der Steuerung des überaus komplexen, durch gesprochene
und geschriebene Sprache vermittelten Sozialverhaltens zuzuschreiben, durch das
sich die Menschen von den Primaten und anderen Säugern mit ausgeprägtem
Sozialverhalten qualitativ unterscheiden. VENs stellen eine besonders große
Form der Pyramidenzellen in der Großhirnrinde dar. Erwachsene Menschen haben
davon über 193.000, Menschenaffen im Schnitt jedoch nur 6.950. Außer bei
Primaten wurden VENs auch bei Elefanten, einigen Walarten und bei Delfinen
gefunden. Interessant ist, dass die Zahl der VENs bei Menschen von 28.200 bei
der Geburt auf 184.000 bei Vierjährigen hochschnellt. Das deute darauf hin,
dass das Aufkommen der VENs in besonderer Weise mit der Entwicklung des
sozialen Bewusstseins verbunden ist, sagt Gazzaniga.
Als
Popperianer hielt sich auch Libet streng an das Beobachtbare und experimentell
Falsifizierbare. Wo er nicht weiter wusste, schlug er statt Spekulationen
Experimente vor, selbst wenn diese heute und morgen noch nicht technisch
durchführbar sein sollten. Aus diesem Grund wies er auch die Behauptung
dogmatischer Materialisten zurück, der Geist sei ein Mythos und das Ich
beziehungsweise sein freier Wille sei eine Illusion. Gegenüber diesen nicht prüfbaren
Behauptungen erschien ihm Descartes’ Beantwortung der Frage, wessen sich eine
Person wirklich gewiss sein kann, als vergleichsweise modern. „Es gibt keine direkten Belege, die der
Existenz einer cartesischen Seele widersprechen“, stellte Libet nüchtern
fest. Als wenigstens im Prinzip experimentell testbare Hypothese hat Libet ein
bewusstes mentales Feld (BMF) als phänomenologisch unabhängige Kategorie in die
Diskussion gebracht. Er bezweifelte allerdings, dass das von ihm vorgeschlagene
Experiment zum Nachweis des BMF, die (schmerzlose) Isolierung einzelner
Plättchen der Hirnrinde, von den zuständigen Ethik-Kommissionen genehmigt
werden würde. Es scheint allerdings, dass sich Libet mit seiner Hypothese auf
dem Holzweg befand.
Leider
haben in den vergangenen Jahren überwiegend vorschnelle deterministische
Interpretationen der Experimente Libets und weniger dessen Insistieren auf
experimenteller Falsifizierbarkeit Schule gemacht. „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Dieses vulgärmaterialistische
Glaubensbekenntnis von Karl Marx und Friedrich Engels ist bis heute de facto
zur Eintrittskarte in jegliche Form neurobiologischer Forschung geworden. Überwiegend
orientiert diese sich noch immer am überholten Weltbild der klassischen Physik
vor der Entdeckung der Quantenphänomene. Doch müssen die Verfechter des
materialistisch-deterministischen Dogmas immer neue argumentative Eiertänze
aufführen, um sich vor der Anerkennung der Tatsache zu drücken, dass es im
Universum und auf Erden Erscheinungen gibt, die nicht materialistisch gedeutet
werden können.
.
Exkurs: David Chalmers versucht, den
Dschungel zu lichten
In
den 1990er Jahren sorgte der australische Mathematiker und Philosoph David
Chalmers bei Neurowissenschaftlern und Philosophen für einiges Aufsehen, als er
versuchte, die verschiedenen Hypothesen über die Entstehung des Bewusstseins mit
messerscharfer Logik übersichtlich zu ordnen. Chalmers unterschied drei Formen
materialistischer Interpretation des Bewusstseins: Modell A bezeichnet den
klassischen monistischen Materialismus, der im Grunde davon ausgeht, das
Bewusstsein sei nur eine Illusion, die physiologische Prozesse im Hirn
begleitet. Modell B, auch Identitätstheorie genannt, nimmt an, dass das
Bewusstsein mit den physikalischen und chemischen Prozessen im Gehirn identisch
ist. Modell C geht davon aus, dass sich das Bewusstsein zwar bislang noch nicht
aus der Funktionsweise des Gehirns erklären lässt, dass weitere Fortschritte
der Hirnforschung das aber möglich machen werden.
Als
Modell D bezeichnet Chalmers die Position des interaktiven Dualismus zwischen
Körper und Geist, die der australische Neurobiologe Sir John C. Eccles und sein
Freund, der lange Zeit maßgebliche Wissenschaftsphilosoph Karl R. Popper,
einnahmen. Eccles, der 1963 für
seine bahnbrechenden Erkenntnissen über die Erregungsübertragung in den
Nervenzellen den Nobelpreis für Medizin erhielt, glaubte stets daran, dass es
eine vom Körper unabhängige und unsterbliche Seele gibt.
Er bezeichnete den materialistischen
Anspruch, die spirituelle Welt mit Mustern neuronaler Aktivität erklären zu
können, als primitiven Aberglauben. Karl R. Popper schlug stattdessen sein geschichtetes
Drei-Welten-Modell vor: die physikalische Welt, die Welt der bewussten und
unbewussten Erfahrungen und die Welt der Mythen und Theorien. Diese drei Ebenen
stehen miteinander in Wechselwirkung. Welt 3 ist ganz offensichtlich nicht auf
Welt 1 reduzierbar. Da aber Welt 2 von Welt 3 abhängt, ist auch sie nicht auf
Welt 1 reduzierbar. Das Bewusstsein ist also nicht aus physikalisch-chemischen
Prozessen erklärbar. Nach Ansicht von Chalmers lässt sich das letztlich auf
René Descartes zurückgehende interaktive Modell durchaus auch mit der modernen Quantenphysik
vereinbaren. Viele Physiker streiten das aber ab, weil sie sich am Dualismus
stören.
Als
Erklärungsmodell E klassifiziert Chalmers den Epiphänomenalismus, der heute
wohl bei Medizinern und Hirnforschern die meisten Anhänger hat. In Deutschland
vertritt neben anderen Gerhard Roth diese Position. Das Bewusstsein erscheint
in diesem Erklärungsansatz als eine Art Überbau chemischer und elektrischer
Prozesse im Hirn. Eine Rückwirkung des Bewusstseins auf diese Prozesse sei aber
ausgeschlossen. Dem widerspricht allerdings der nachweisbare Einfluss des Denkens
auf die Hirnentwicklung. Der Epiphenomenalismus ist im Endeffekt lediglich eine
abgemilderte Form von Materialismus. Für Chalmers spricht aber die subjektiv
nachprüfbare Existenz des Selbst- beziehungsweise Ich-Bewusstseins schon als
solche gegen den Materialismus.
Chalmers
selbst vertritt ein sechstes Erklärungsmodell (F), das er als „Phänomenalismus“
oder „Panpsychismus“ bezeichnet. Diese Weltsicht ist sowohl vereinbar mit dem
Dualismus, als auch mit dem idealistischen Monismus, den der indischstämmige amerikanische
Quantenphysiker Amit Goswami schon 1993 als philosophische Basis der
Bewusstseinsforschung vorgeschlagen hat. Nach dieser Auffassung ist Bewusstsein
seit dem Urknall überall im Universum vorhanden – ähnlich wie die nicht minder
geheimnisvolle Schwerkraft (Gravitation). Bewusstsein wäre eine
Grundeigenschaft der Welt. Der idealistische Monismus ist also die logische
Umkehrung des materialistischen Monismus. Nicht die stoffliche Materie gilt
darin als primär, sondern Geist beziehungsweise Information.
Die Nichtlokalität des Bewusstseins und
die Quantenphysik
Tatsächlich
gibt es inzwischen nicht wenige Naturwissenschaftler, die davon überzeugt sind,
dass der Beginn des Johannes-Evangeliums („Im Anfang war das Wort…“) die
Entwicklung des Universums ausgehend vom Urknall nach heutigem Wissen im
Prinzip richtig beschreibt. Am weitesten ging dabei der christlich engagierte
Informatiker Werner Gitt (früher Direktor an der Physikalischen Bundesanstalt
in Braunschweig) in seinem Buch „Am
Anfang war die Information“ (1994, 2002). In der „Ursuppe“, in der nach der
bekannten Hypothese von Stanley L. Miller Leben spontan entstanden sein soll,
konnten experimentell bislang höchstens Aminosäuren, aber nie auch nur
einfachste Proteine erzeugt werden. Dafür fehlte der genetische Code, das heißt
die Information für die Anordnung der Aminosäuren. Auch die Entwicklung der
Organismenvielfalt und komplexer Organe konnte nur zielgerichtet und nicht im
Zusammenspiel von blindem Zufall und Selektion erfolgen. Die Selektion erklärt
nur gewisse Anpassungen, aber nicht Entstehung und Durchsetzung von Neuerungen.
Durch die Entdeckung der Transpositionselemente (TE) im Genom und die
Erkenntnisse der Epigenetik wurde Darwins Gegenspieler Jean Baptiste Lamarck inzwischen
wieder ein Stück weit rehabilitiert. „Lebende
Organismen reagieren auf schwere und anhaltende Belastungen, denen sie durch
ihre Umwelt ausgesetzt werden, mit einem kreativen Prozess der
Selbstmodifikation ihres Genoms“, erklärt der Freiburger Neurogenetiker Joachim
Bauer. Diese Einsicht muss nach seiner Ansicht nicht als Bestätigung des
biblischen Schöpfungsglaubens interpretiert werden, aber sehr wohl als fundamentale
Infragestellung des Darwinismus. Die Darwinsche Erklärung der Evolution aus dem
Zusammenspiel von zufälligen Mutationen und natürlicher Zuchtwahl passt noch am
ehesten auf die menschliche Kulturentwicklung. Die biotische Evolution verlief,
wie wir heute wissen, entgegen Darwins Annahme eines strengen Gradualismus,
durchaus in Sprüngen, und zwar aufgrund der Verdoppelung und Umgruppierung von Transpositionselementen im Genom. Graduelle Anpassungen infolge der
natürlichen Selektion spielten nur in den relativ langen Ruhephasen zwischen
den Sprüngen die Hauptrolle.
Joachim
Bauer unterstreicht die richtungweisende Rolle der Information bei der
Entstehung komplexer Organismen mit folgendem Vergleich: „Die Annahme, Zufallsmutationen hätten aus einem einzelligen Lebewesen
einen vielzelligen, vermehrungsfähigen Organismus mit Körperbauplan entstehen
lassen können, gleicht der Erwartung, es bilde sich – nach dem Zufallsprinzip –
schließlich ein Wolkenkratzer, wenn man die dazu notwendigen Komponenten nur
oft genug auf einen Haufen schütte.“ Bauer weist darüber hinaus darauf hin, dass
Darwin selbst in zentralen Fragen weniger dogmatisch war als seine sozialdarwinistischen
Epigonen. Für einen dem Menschen von Siegmund Freud und Konrad Lorenz
zugeschriebenen primären „Aggressionstrieb“ gibt es keinen Beleg. Auch Richard
Dawkins kann sich mit seinem Konstrukt „egoistisches Gen“ nicht auf Darwin
berufen. Dieser behandelte in seinen Schriften dagegen recht ausführlich die
„Instinkte“ der Zuneigung und Anteilnahme. Die Menschen sind nach Darwin primär
durch die Suche nach sozialer Anerkennung und Bindung motiviert. Beide sind,
wie wir heute wissen, unabdingbar für die normale Ausdifferenzierung der
Motivationssysteme des Mittelhirns und die Freisetzung der dort gebildeten
Botenstoffe wie vor allem Dopamin und körpereigene Opioide. Es gibt im
menschlichen Hirn keinen Mechanismus, der das Quälen von Mitmenschen belohnen
würde. Stattdessen sorgen so genannte Spiegelneurone dafür, dass wir den
Schmerz anderer nicht nur geistig, sondern über den cingulären Cortex auch
körperlich mitfühlen. Aggressives Verhalten beruht nicht auf angeborenen
Instinkten, sondern auf einem durch Frustration und Demütigung erworbenen
Mangel an „Beruhigungshormon“ Serotonin, das in den Raphe-Kernen des Stammhirns
gebildet wird.
Das
menschliche Hirn ist also ein soziales Organ. Die wichtigsten Informationen für
die Orientierung seiner Entwicklung stammen nicht von ihm selbst, sondern aus
der gesellschaftlichen Interaktion, also „von außen“. Soziale Ausgrenzung kann
im Hirn betroffener Individuen zu messbaren Schäden führen! Joachim Bauer betont auch, dass Darwin
durchaus von der Existenz einer „Seele“ überzeugt war. Er sah in ihr die fühlende
Instanz der Lebewesen und schloss nicht aus, dass diese zum großen, wenn nicht
größten Teil unbewusst arbeitet. In seinem noch heute oft zitierten Werk „The Expression of Emotion in Man and
Animals“ schildert Darwin
ausführlich seine scharfen Beobachtungen der psychosomatischen Effekte von
Empathie. Der deutsche Verhaltsphysiologe Gerhard Roth bestreitet allerdings,
dass man von „Seele“ oder Bewusstsein im Singular reden kann. Es handele sich
dabei um inhaltlich sehr verschiedene Zustände, die gemeinsam haben, dass sie
unmittelbar bewusst erlebt werden und in sprachlicher Form berichtet werden
können. Aber auch Roth, für den „Geisteszustände
wesensmäßig Hirnzustände“ sind, geht von einer „partiellen Eigengesetzlichkeit von Geist und Bewusstsein“ aus.
Der
Physiker Amit Goswami teilt hingegen die Auffassung der jüdischen, christlichen
und buddhistischen Mystiker, dass es hinter der Mannigfaltigkeit der
Naturerscheinungen nur ein einziges, an keinen Ort gebundenes Bewusstsein gibt.
Ohne ein bewusst beobachtendes Subjekt existiert danach kein Objekt in Raum und
Zeit, sondern es existiert lediglich als Möglichkeit in einer anderen, unseren
Sinnen nicht zugänglichen Dimension. Er beruft sich dabei auf den
Physik-Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, der betonte, dass das Bewusstsein trotz
seiner sozialen Natur nie in der Mehrzahl, sondern immer nur in der Einzahl
erlebt wird. „Das Bewusstsein ist die
Schaltstelle, die die Welle eines in Potentia existierenden Quantenobjekts zum
Kollabieren bringt, um es in der Welt der Manifestation zu einem immanenten
Teilchen werden zu lassen“, schreibt Goswami. Und weiter: „Der Quantenkollaps ist ein vom Beobachter
betriebener Auswahl- und Erkennungsprozess; letztlich gibt es nur einen
Beobachter.“ Das Selbstbewusstsein bestehe darin, eine Wahl zu treffen.
Kurz: Ich entscheide, also bin ich. Im Lichte der christlichen Theologie
besehen, erwachsen gerade daraus Gewissen und Verantwortlichkeit des Menschen
als gottesebenbildliche Person. Man kann das glauben oder nicht. Widerlegen
lässt sich diese Sicht der Verhältnisse mit dem heutigen neurobiologischen
Wissen jedenfalls nicht. Nicht von ungefähr nennt Gazzaniga das menschliche Gehirn
eine „Entscheidungsfindungsmaschine“.
Wladimir
Iljitsch Lenins in der Schrift „Materialismus
und Empiriokritizismus“ (1908) durchaus intelligent hergeleitete
nichtstoffliche Materiedefinition (Materie ist alles, was unabhängig von
unserem Bewusstsein existiert.) erscheint vor diesem Hintergrund übrigens als
absurd. Denn außerhalb des Bewusstseins existiert alles, wenn überhaupt, nur „in Potentia.“
Die Nichtlokalität des Bewusstseins, seine
Unabhängigkeit von bestimmten Körperfunktionen schließen aus, dass wir von
verschiedenen Gehirnaktivitäten auf Gedanken- und Bewusstseinsinhalte schließen
können. Eine Bestätigung dieser These sieht der niederländische Kardiologe und
Bewusstseinsforscher Pim van Lommel in Hunderten von ihm analysierten und
statistisch ausgewerteten Nahtoderfahrungen (NTE) von Patienten mit einem
vorübergehenden Totalausfall aller Hirnfunktionen während eines
Herzstillstandes. Dabei beobachten sich die hirntoten Patienten von einer
Position außerhalb ihres Körpers (meist von oben) und gleiten durch einen
schwarzen Tunnel gleißendem Licht entgegen. Van Lommel ist der Meinung, dass
seine eigenen Auswertungen von Nahtoderlebnissen mithilfe von ausführlichen
Patientenbefragungen am besten mithilfe von David Chalmers Modell F erklärt
werden können. Er schließt sich deshalb dem Quantenphysiker David Bohm an, der
das Gehirn mit einem Fernsehempfänger verglich, der die durch
elektromagnetische Felder übertragenen Informationen dekodiert und daraus bewegte
Bilder und Töne rekonstruiert. Das Gehirn produziert nach dieser Vorstellung das
Bewusstsein nicht, sondern macht bewusste Erfahrung lediglich möglich. „Das Gehirn produziert das Bewusstsein so
wenig wie der Computer das Internet produziert“, schreibt van Lommel.
Gerhard
Roth, der selbst bei einem schweren Verkehrsunfall Eigenartiges erlebte, erklärt Nahtod-Erfahrungen und extrakorporelle
Erlebnisse wie andere materialistisch eingestellte Neurophysiologen durch
Sauerstoffmangel oder Verletzungen im Bereich des Parietal- oder Temporal-Cortex.
Erlebnisse starker Helligkeit können nach Ansicht seines Fachkollegen Detlev Linke
die Folge von Sauerstoffmangel in der Netzhaut der Augen oder im primären
visuellen Cortex sein. Doch einige Details in den von van Lommel
aufgezeichneten Patienten-Berichten widersprechen diesen Interpretationen.
Manche Patienten berichteten glaubhaft von Beobachtungen im Operationssaal, die
ihnen im Zustand des Hirntods nicht hätten möglich sein sollen. Gerhard Roth,
der die philosophische Position eines gemäßigten Konstruktivismus vertritt,
weist demgegenüber darauf hin, dass das vom Hirn entworfene Bild der Situation
seines Trägers generell leicht gestört werden kann. Schon beim Aufstieg in der
dünnen Luft eines Anden-Gipfels komme es zu extrakorporellen Erlebnissen, die
bereits von Alexander von Humboldt ausführlich beschrieben wurden. Meines Erachtens
bedarf es aber gar keiner Analysen von Extremsituationen, um verstehen zu
können, warum die Vorstellung, unser Hirn produziere Bewusstsein, als
fragwürdig erscheinen zu lassen. (Dazu später)
Antonio Damasio bleibt bei der
biologischen Erklärung
Im
vergangenen Jahr hat der durch einige Welt-Bestseller bekanntgewordene
portugiesisch-kalifornische Hirnforscher Antonio Damasio einen neuen Anlauf zur
streng materialistischen Erklärung der Entstehung des menschlichen
(Selbst-)Bewusstseins genommen. Herausgekommen ist dabei ein nicht ganz leicht
lesbares Buch, bei dessen Lektüre man dem Gehirn dabei zuschauen soll, wie es
die eigene Wirklichkeit, das Selbst, erzeugt. Es versteht sich, dass das Selbst
dabei nicht als Gegenstand, sondern als Prozess gefasst wird. Damasio bekennt
sich ohne Einschränkung zum Darwinismus. Er grenzt sich damit bewusst ab von
etlichen Kollegen, die (wie etwa der Neurogenetiker Joachim Bauer in
Deutschland) gerade wegen ihrer neurobiologischen Erkenntnisse die Bedeutung
des Zufalls und der Selektion bei der Entwicklung komplexer Strukturen
anzweifeln.
Dabei
zeigt sich Damasio durchaus auch philosophisch, literarisch und
wissenschaftshistorisch bewandert, trifft jedoch bei seinen Referenzen eine
höchst einseitige Auswahl. Andernfalls müsste er wohl die Dogmen des
materialistischen Monismus in Frage stellen. „Der Geist erwächst aus der Aktivität kleiner Schaltkreise in großen
Netzwerken“, erklärt Damasio ohne Umschweife und gibt damit dualistische
und objektiv-idealistische Erklärungsansätze, die ausgehend vom „Spuk“ der
Quantenphysik im Hirn eher einen Empfänger als einen Produzenten von Geist
sehen, unausgesprochen der Lächerlichkeit preis. Doch damit macht er es sich meines Erachtens entschieden zu leicht, denn
die Hirnstrukturen, die er beschreibt, taugen gleichermaßen zum Senden wie zum
Empfangen von Information
Antonio
Damasio gibt sich fest überzeugt, mithilfe neuroanatomischer Untersuchungen
sowie der Auswertung von Hirnverletzungen und Krankheitsverläufen (vor allem
von Schlaganfall- und Alzheimer-Patienten) das Protoselbst im oberen Hirnstamm
lokalisieren zu können. Er muss den Ursprung des Ich in einen
entwicklungsgeschichtlich älteren Teil des Hirns verlegen, da es nach den
Erfahrungen mit „split-brain“-Patienten mit Sicherheit nicht im Großhirn liegen
kann. Das Protoselbst sei so unauflöslich an den Körper gebunden. Damit weist
Damasio jeglichen Dualismus von Körper und Geist wie auch jeglichen
idealistischen Monismus weit von sich. Das bewusste Kernselbst und das
autobiografische, soziale Ich handeln nach seiner Ansicht nicht von Worten,
sondern von Taten, die im Hirn in Form von Dispositionen für die Erzeugung von
Karten beziehungsweise räumlichen Bewegungsbildern gespeichert werden. Das
Gedächtnis sei also nicht mit einem Bildarchiv vergleichbar. Dafür würde die Kapazität
des Hirns bei weitem nicht ausreichen. Es enthalte stattdessen lediglich
Anweisungen für die Rekonstruktion von Bildern durch das Zusammenspiel
sensomotorischer Neuronen in den posteromedialen Feldern des Großhirns und im Tegumentum
des Stammhirns. Dazu gehören auch die so genannten Spiegelneuronen.
Allein
könne die Großhirnrinde kein Bewusstsein erzeugen, betont auch Damasio. Das
Bewusstsein gleiche vielmehr der Aufführung einer Symphonie, deren Töne in ganz
unterschiedlichen Hirnregionen erzeugt werden. Damasio erkennt also an, dass es
keine Hirnstruktur gibt, die man als Sitz oder Ursprung des Bewusstseins
bezeichnen könnte. Aber er scheint nicht zu bemerken, dass der von ihm bemühte
Vergleich mit einer Symphonie eher Chalmers’ Ansicht als seine eigene stützt.
So erklärt Damasio auch das Gedächtnis alles andere als vulgär-materialistisch:
Wir erinnern uns nicht an Objekte, sondern an unsere materielle und virtuelle Interaktion
mit ihnen. Die so erzeugten visuellen und akustischen Bilder sind nur ihrem
Besitzer zugänglich. Da alle Erinnerungen Rekonstruktionen sind, müssen sie nicht
originalgetreu sein. Mit Gerüchen scheint es sich indes anders zu verhalten. Es
gibt keine Bilder von Gerüchen, die unabhängig von der jeweils aktuellen
Geruchswahrnehmung erzeugt werden können. Das hängt wohl damit zusammen, dass
die Riechnerven nicht über den Thalamus, das Schaltzentrum des Gehirns, zurm
Cortex, sondern direkt in das limbische System (Hypothalamus, Amygdala, Gyrus cinguli)
führen.
Auch
aus Damasios Sicht hängt das Denken eng zusammen mit Emotionen und Gefühlen, die
Signale für die Wertigkeit von Informationen liefern. In früheren Büchern hat
er, ähnlich wie Roth, den Gefühlen sogar die Rolle des entscheidenden Antriebs
des Denkens zugeschrieben. Aber gerade deshalb kommt auch er zum Schluss: „Den bewussten Geisteszustand erleben wir aus
der exklusiven, unmittelbaren Perspektive unseres eigenen Organismus, und er
kann nie von irgendjemand anderem beobachtet werden. Das Erleben ist einzig und
allein dem jeweiligen Organismus eigen und verfügbar.“. Der
Emotionsmechanismus sei aber in jedem gesunden Hirn recht ähnlich. Deshalb könnten
Menschen aus ganz verschiedenen Kulturkreisen gemeinsam Schmerz oder Freude
empfinden. Der Hirnforscher geht gleichzeitig davon aus, dass der Geist als
Ergebnis der natürlichen Selektion größtenteils unbewusst bleibt: „Der Geist ist ein ganz natürliches Ergebnis
der Evolution, und er ist zum größten Teil unbewusst, innerlich und verborgen.
Bekannt wird er uns durch das schmale Fenster des Bewusstseins“, schreibt
Damasio.
Deshalb
gesteht auch Damasio gegen Ende seiner Abhandlung ein, nur ein Zipfelchen des
Geheimnisses des Bewusstseins gelüftet zu haben: „Die Vorstellung, wir wüssten genau, was das Gehirn ist und was es tut,
ist pure Torheit.“ Dennoch gibt er sich überzeugt, auf dem eingeschlagenen Weg
eines Tages zur vollständigen biologischen Erklärung des Bewusstseins gelangen
zu können. „Probleme, die unsagbar
rätselhaft und ungeheuer schwierig erscheinen, sind wahrscheinlich einer
biologischen Erklärung zugänglich. Die Frage ist nicht ob, sondern wann das
sein wird“, unterstreicht er.
Ich
halte das nicht nur für voreilig, sondern für abwegig. Phänomene wie Intuition,
Hellsehen, Gedankenübertragung zwischen weit voneinander entfernt lebenden
Personen, Liebe auf den ersten Blick, Déjà-vu-Erlebnisse, das kollektive
Unbewusste und Glaubenstreue werden auf der Basis der bis heute in der
biomedizinischen Forschung dominierenden physikalisch-chemischen Herangehensweise
vermutlich nie zufriedenstellend erklärt werden können.
Schluss: Das Selbstbewusstsein kommt
nicht vom Selbst
Alle
Versuche, das Ich in bestimmten Hirnstrukturen zu lokalisieren, waren
vergeblich. Schon bei Kant erscheint das transzendentale Ich als „inhaltsleer“.
Es wird uns heute langsam klar, warum das so ist. Zwar lassen sich im
präfrontalen Cortex und in anderen Teilen des Gehirns wie dem Hippocampus, dem Scheitel-
und dem Schläfenlappen bestimmte Ich-Funktionen wie das Gewissen, das Körper-,
das Orts- und das Kontrollgefühl oder das autobiografische Gedächtnis verorten.
Aber es gibt im Hirn keine übergeordnete Instanz, die das alles koordiniert und
das Ich-Bewusstsein produziert. Insofern haben jene recht, die im Hirn eher
einen Empfänger als einen Produzenten von (Selbst-)Bewusstsein sehen. Gerhard
Roth zieht jedenfalls den Schluss: „Das
Ich ist Produkt der Entwicklung der Persönlichkeit und nicht – wie viele
Philosophen annehmen – der Produzent der Persönlichkeit.“ Wobei er implizit
davon ausgeht, dass die Persönlichkeit sich im komplexen Wechselspiel von
Veranlagung und sozialer Umwelt entwickelt.
In
der sozialen Interaktion hat aber, wie wir heute wissen, nicht der rationale
Cortex, sondern das emotionale limbische System die Oberhand. Dieses entscheidet
größtenteils unbewusst. Die Menschen suchen, wie schon Darwin erkannte, zu
allererst nach Empfindsamkeit, Zuneigung, Geborgenheit und Anerkennung. Rationale
Entscheidungen kommen nur so weit zum Tragen, wie sie mit dem emotionalen
Gleichgewicht vereinbar sind. Die Menschen treffen zwar ständig
Kosten-Nutzen-Abwägungen. Aber die emotionalen Kosten beziehungsweise ein
möglicher Lustgewinn wiegen dabei meistens schwerer als rein materielle
Gewinn-Aussichten. Niemand lässt sich gerne auf ein Geschäft ein, das ihm im
wahrsten Sinne des Wortes Bauchschmerzen bereitet. Materielle Anreize wirken am
besten, wenn sie mit der Aussicht auf eine Steigerung der gesellschaftlichen
Anerkennung verbunden sind. Auf jeden Fall, so Gerhard Roth, hat das „limbische System gegenüber dem rationalen
Cortex das erste und das letzte Wort.“ Daher auch die Beobachtung, dass
auch moralisch und/oder religiös motivierten Handlungs-Vetos ein unbewusstes
Bereitschaftspotential vorausgeht.
Das
bedeutet aber durchaus nicht, dass geistige Antriebe des menschlichen
Verhaltens keine Rolle spielen. Gerhard Roth weist selbst darauf hin, dass das
Geist-Gehirn-Problem noch lange nicht gelöst ist, weil uns dafür theoretische
Modelle fehlen. Viele Beobachtungen deuten darauf hin, dass der „Geist“
vorzugsweise über das limbische System und weniger über die Pyramidenzellen des
Cortex zur Geltung kommt, wie das John Eccles noch annahm. Dass Menschen
religiöser oder politischer Überzeugungen wegen ihr Leben opfern oder das Todesrisiko
in Kauf nehmen, lässt sich nur dadurch erklären, dass das limbische System in
diesen Fällen Motiven und Antrieben folgt, die stärker sind als die natürliche
Todesangst. Solche Antriebe können nicht vom Gehirn selbst, sondern nur von
außen kommen – oder vielmehr aus der Interaktion zwischen Personen (oder
zwischen Personen und einem persönlichen Gott). So kann unser Hirn zwar das
„Zärtlichkeitshormon“ Oxitocin produzieren, aber nicht die Liebe. Diese stellt sich
unter bestimmten Bedingungen zwischen zwei oder mehreren Personen ein (oder
nicht). Zu Recht sprechen wir auch heute noch vom Wunder der Liebe, wenn auch in
der Tendenz vielleicht nur noch in Groschenromanen und Schnulzen. Ob die
Quantenphysik diesen geheimnisvollen Vorgang jemals wird entzaubern können,
steht dahin. Vielleicht ist das auch gar nicht wünschenswert.
„Wir sind Menschen, Personen, keine Gehirne“,
betont Gazzaniga leider erst im Nachwort seines neuesten Buches. Die
Neurobiologen befinden sich jedenfalls auf der falschen Fährte, wenn sie das
Ich in der Hardware suchen, sagt er. Vielmehr liegt dieses in der Software und
ist deshalb durchaus nicht weniger real vorhanden. „Paradoxerweise glauben selbst die fanatischsten Deterministen und
Fatalisten in Bezug auf sich selbst keineswegs, dass sie nur eine Marionette
ihres Gehirns seien“, bemerkt Gazzaniga.
Deshalb verortet er die straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit nicht
im Hirn sondern in Verträgen zwischen Menschen. Selbst Menschen mit
ausgeprägtem Serotonin-Mangel und irreparablen Hirnschäden seien unter den
Augen der Polizei meistens noch in der Lage, sich an Verträge zu halten, betont
Gazzaniga.
Auch
in streng materialistischen Ansätzen einer Theorie der Persönlichkeit wird übrigens
anerkannt, dass das Geheimnis der Persönlichkeitsentwicklung nicht in der
Hardware, sondern in der Software liegt. So hat der französische marxistische
Philosoph Lucien Sève bereits Anfang der 1970er Jahre darauf hingewiesen, das
Wesen des Menschen liege außerhalb seiner selbst. Eine marxistische Theorie der
Persönlichkeit dürfe sich nicht mit Dingen, sondern müsse sich mit
Verhältnissen beschäftigen. Hätte Sève dieses Postulat konsequent zu Ende
gedacht, hätte er aber meines Erachtens den Korridor der materialistischen
Korrektheit verlassen und sich mit dem idealistischen Monismus anfreunden müssen.
Denn nur dieser erlaubt es, Information als genau so „materiell“ zu begreifen
wie Gegenstände.
Gazzaniga
befindet sich demgegenüber aber meines Erachtens auf dem Holzweg, wenn er
schreibt: „Genau wie politische Regeln
vom Volk eingerichtet werden und es kontrollieren, wird auch das Gehirn vom
Geist bestimmt, den es selbst hervorbringt.“ Abgesehen von einem durchaus
naiven Demokratieverständnis, das hier zum Vorschein kommt, offenbart Gazzaniga
damit einen untergründigen Dualismus. Dieser ist aber die einzige theoretische
Position, die heute als experimentell widerlegt gelten kann. Derzeit deutet Vieles
darauf hin, dass die einzige logisch stimmige Alternative zum kruden materialistischen
Determinismus eines Richard Dawkins im idealistischen Monismus liegt.
Das
Geheimnis der Entstehung von Selbstbewusstsein liegt, wie bereits angedeutet,
im Prozess der neuronalen Entscheidungsfindung. Ausschlaggebend dafür ist, wie
wir heute wissen, das limbische System. Wie dieses mit den Sinnen und Hirnen
anderer Personen sowie mit der sichtbaren und unsichtbaren Welt interagiert,
wird wohl noch lange als Wunder gelten. Daran werden quantentheoretische
Erklärungsversuche vermutlich wenig ändern. Mir persönlich ist ein Licht
aufgegangen, als ich vor etlichen Jahren verschiedene Schriften des 1997
verstorbenen Wiener Neurologen und Psychiaters Viktor E. Frankl las. Frankl
schildert darin unter anderem, wie es ihm durch geistige Anstrengung gelang,
das KZ Auschwitz und das Außenlager Türkheim des KZ Dachau zu überleben. Er
erkannte im Verlust des Lebenssinns und der damit verbundenen Selbstaufgabe die
größte Gefahr im Lagerleben. Denn er hatte beobachtet, dass die
Überlebenschance von Häftlingen, die sich selbst aufgegeben hatten, gegen Null
tendierte. Dabei kam ihm zugute, dass er sich schon vorher als Psychiater
hauptsächlich mit Selbstmordkandidaten beschäftigt hatte. Es wurde ihm klar: Der
Mensch kann in seiner linken Großhirnhälfte zwar einen Sinn in Beobachtungen
hineindeuten, aber Sinn nicht selbst erzeugen, sondern den Sinn seines Lebens
nur außer sich suchen und finden. Der Sinn könne ihm aber nicht von außen
verliehen oder aufoktroyiert werden. Nur ein zum Transzendenten und Absoluten
hin offenes Lebensziel könne den Menschen letztlich Halt geben. „Mensch sein heißt auch schon über sich
selbst hinaus sein“, betonte er. Frankl näherte sich dabei als Jude der
Botschaft Christi und der christlichen Lehre von der Person als Ebenbild
Gottes. Gegenüber der Lehre Sigmund Freuds bestand er darauf, dass es in der
menschlichen Psyche nicht nur ein triebhaft Unbewusstes, sondern auch
unbewusste Religiosität gibt. Er ging übrigens wie selbstverständlich davon
aus, dass die äußere Welt nicht nur im Bewusstsein, sondern umgekehrt auch
Bewusstsein von vornherein in der Welt „enthalten“
ist.
Frankl erkannte aufgrund seiner Erfahrungen im KZ
und in seiner psychiatrischen Praxis: Der Mensch „hat“ einen Charakter – aber er „ist“
eine Person. In letzter Instanz entscheide die geistige Person über ihren
seelischen Charakter. Der Charakter ist eine Schöpfung der Person. „Die Charakteranlage ist daher auf keinen
Fall das jeweils Entscheidende; letztlich entscheidend ist vielmehr immer die
Stellungnahme der Person. Zuletzt entscheidet der Mensch über sich selbst. Der
Mensch hat also nicht nur Freiheit gegenüber Einflüssen je seiner Umwelt,
sondern auch gegenüber seinem eigenen Charakter. Ja, in gewissem Sinne ist es
sogar so, dass die Freiheit gegenüber der Umwelt in der Freiheit gegenüber dem
Charakter fundiert ist.“ Die
Glaubensentscheidung manifestiert sich,
wie gesagt, im limbischen System. Heute ist es im Prinzip möglich geworden,
mithilfe von Hirnscans echten Glauben von Lippenbekenntnissen zu unterscheiden (was
nicht heißt, man könne Gedanken lesen!). Aber eines scheint mir sicher: Der
Neurowissenschaft, die ausgezogen war, das Bewusstsein rein biologisch, das
heißt materialistisch zu erklären, wird es nicht gelingen, den Glauben aus der
Wissenschaft zu verbannen. Es gibt kein falsches Bewusstsein, wohl aber vernunftwidrige
Glaubenssätze, die die geistige Natur des Bewusstseins leugnen.
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Antonio: Self Comes to Mind. Constructing the Conscious Brain. New York 2010,
deutsch: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des
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Dawkins, Richard: The Selfish Gene. Oxford u. a. 1976, deutsch: Das
egoistische Gen. Spektrum Akademischer Verlag. Taschenbuchausgabe, Heidelberg
2006
Viktor E. Frankl: Der leidende Mensch.
Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Neuausgabe. Piper. München 1990
Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der
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Gazzaniga,
Michael: Who’s in Charge? Free Will and The Science of the
Brain, New York 2011, deutsch: Die Ich-Illusion. Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen. Carl
Hanser Verlag, München 2012
Gitt,
Werner: Am Anfang war die Information. 3. überarb. Aufl. Hänssler Verlag,
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Goswami,
Amit: The Self-Aware Universe, 1993, deutsch: Das bewusste Universum. Lüchow
Verlag, Stuttgart 2007
Libet,
Benjamin: Mind Time. The Temporal Factor in
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Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 2005, 2007
Lommel, Pim
van: Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung. Walter
Verlag, Mannheim 2010
Popper,
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und sein Gehirn. Piper Verlag, München-Zürich, 1982
Roth,
Gerhard: Aus Sicht des Gehirns. Vollst. überarb. Neuaufl. Suhrkamp Taschenbuch,
Frankfurt am Main 2003, 2009
Sève,
Lucien: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Dietz Verlag, (Ost-)Berlin
1972
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Erwin.: Geist und Materie. Zsolnay Verlag, Wien 1959
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